Fürsorgliche Zwangsmassnahmen: Das Schicksal von Verdingkindern
Das Wichtigste in Kürze
Die Verdingkinder mussten viel durchmachen. Etlichen armen Familien wurden die Kinder weggenommen und in Bauernfamilien oder Heime gebracht, wo sie umerzogen“ werden sollten. Manche Kinder hatten dabei Glück, andere machten eine furchtbare Zeit durch. Sie mussten hart arbeiten, wurden schlecht behandelt und waren physischen und psychischen Missbrauch ausgesetzt. Die Schweiz erkannte das Unrecht, das diesen Menschen damals widerfahren ist, an, und stellte einen Entschädigungsbeitrag für die Opfer bereit.
Womit begründeten die Behörden, dass sie Kinder aus Familien wegzerrten und umplatzierten?
Wer waren die Verdingkinder?
Was gehörte zum Alltag vieler Verdingkinder?
Diese Zusammenfassung liefert Dir die Antworten auf diese und viele weitere interessante Fragen!
Info 1: Und das nannte sich Fürsorge?!
Die schweizerische Grundordnung ist föderalistisch ausgelegt. Deshalb sind die Gemeinden für die Armen- und Trinkerfürsorge zuständig. Fürsorge kostet aber auch, was damals vor allem in ärmeren ländlichen, aber auch Industriegebieten problematisch war.
Die Behörden waren deshalb dazu berechtigt, Kinder und Jugendliche, die die Vormundschaftsbehörden als gefährdet oder verwahrlost betrachteten oder deren Eltern die Behörden als liederlich, arbeitsscheu, trunksüchtig oder geisteskrank einschätzten, umzuplatzieren.
Müttern, die dementsprechend klassifiziert wurden und oft noch sehr jung und alleinstehend waren, wurden oftmals ihre Neugeborenen schon im Spital weggenommen und zur Adoption freigegeben.
Verantwortlich dafür waren grösstenteils Laien. Sie stimmten sich mit kirchlichen Würdenträgern und gemeinnützigen Organisationen ab und trafen Entscheidungen, ohne Rücksicht auf die betroffenen Personen zu nehmen oder Widerspruch zu dulden.
Die Kinder wurden in Heime oder Bauernfamilien gesteckt. Begründet wurde dieser Ablauf mit Kinderschutz, Umerziehung oder der langfristigen Armutsbekämpfung. Diese Kinder bezeichnete man als Verdingkinder.
Definiton Verdingkinder:
Kinder, die ihren Eltern weggenommen oder von ihnen selbst weggegeben wurden. Somit Kinder ohne Eltern, die schutzlos in fremden Familien, Heimen oder Anstalten untergebracht wurden.
Auch viele Erwachsene wurden in Anstalten, Gefängnisse oder psychiatrischen Kliniken weggesperrt. Das wurde als„administrative Versorgung“bezeichnet.
Definition administrative Versorgung:
Freiheitsentzug ohne Gerichtsurteil respektive Zwangsunterbringung von Personen in einer Anstalt. Heute als „fürsorgerischer Freiheitsentzug“ gesetzlich streng geregelt.
Info 2: Die Grausamkeiten der Umerziehung
Umerziehung in den Bauernfamilien
Die Kinder, die (um-)erzogen werden sollten, wurden oft in Bauernfamilien untergebracht. Diese nahmen meistens aber nur ein oder höchstens zwei Kinder auf. Die Kinder waren komplett abhängig von ihrer „neuen Familie“.
Manche wurden dort tatsächlich gut und wohlgesinnt erzogen, andere wiederum waren Ausbeutung, Gewalt, Unterdrückung, Diskriminierung und Übergriffen ausgesetzt.
Ihr Leben dort war geprägt von:
harter Arbeit (statt Schule im Sommer)
Schlafplätzen in kalten Kellern im Winter
Hunger
Freiheitsentzug durch Einsperren im Haus
Die Behörden schauten ab und an einmal vorbei und fragten, wie es den Kindern ging. Aber selbst wenn sie von den grauenvollen Zuständen und Vorkommnissen erzählten, wurde ihnen nicht geglaubt oder sie wurden einfach zu einer anderen Bauernfamilie gebracht, bei der sie entweder Glück hatten oder es eben genauso weiterging wie vorher.
Die Peiniger der Kinder hatten keine Konsequenzen zu befürchten, weil sie in der Öffentlichkeit ja als fürsorgliche „Erziehungspersonen“ angesehen wurden.
Umerziehung in den Kinder- und Jugendheimen
Daneben gab es noch etliche Kinder, die in Kinder- und Jugendheimen untergebracht wurden. Sie wurden als„Besserungs- und Erziehungsanstalten“ bezeichnet. Was dort ablief, war ebenso fürchterlich: Es wurde versucht, die Persönlichkeit der Kinder zu brechen, damit sie umerzogen werden konnten. Dazu wurden an den Kindern physische und psychische Zwangsmassnahmen durchgeführt.
Es konnte ausserdem herausgefunden werden, dass Versuche mit Psychopharmaka, Zwangsadoptionen und Zwangssterilisationen (vor allem bei Frauen, die uneheliche Kinder bekommen hatten) stattfanden.
Zum Heimalltag gehörten also:
physische Züchtigung
harte Strafen
sexuelle und sadistische Übergriffe
Viele Opfer des damaligen Heimpersonals (darunter Pädagog*innen, Heimleiter*innen, Ordensschwestern und Sozialarbeiter*innen) begingen Selbstmord oder wurden psychisch krank.
Info 3: Entschädigungen und der Versuch der Wiedergutmachung
2010 und 2013 fanden offizielle Entschuldigungen des Bundesrates gegenüber den Opfern der damaligen Vorkommnisse statt.
Die Schweiz stellte insgesamt 300 Millionen Schweizer Franken für die Opfer dieser fürsorglichen Zwangsmassnahmen bereit. Damit erkannte sie das Unrecht und den Fakt an, dass in der Schweiz bis 1981 Kinder und Jugendliche als billige Arbeitskräfte verdingt, aus ihrer Familie herausgezerrt und in solche Erziehungsheime und geschlossene Einrichtungen gebracht wurden.
Bis 2018 erhielten 9'027 Personen vom Bund einen Solidaritätsbeitrag über 2'000 Schweizer Franken für erfahrenes Unrecht als Opfer fürsorglicher Zwangsmassnahmen.
Bis heute gibt es noch um die 60'000 Menschen, die Opfer dieser Grausamkeiten wurden. Diese Zahl bezieht sich nur auf die Opfer, die noch nicht verstorben sind.
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Teil 1
Fürsorgliche Zwangsmassnahmen: Das Schicksal von Verdingkindern
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Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wer waren die Verdingkinder?
Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden und schutzlos in andere Familien oder Einrichtungen gebracht wurden. Dort mussten sie teilweise grauenvolle Dinge erleben und sollten "umerzogen" werden.
Was gehörte zum Alltag der Verdingkinder in damaligen Kinder- und Jugendheimen?
In den meisten Kinder- und Jugendheimen waren die Verdingkinder jeden Tag harten Strafen, Gewalt, Ausbeutung, Unterdrückung, Diskriminierung und sexuellen und sadistischen Übergriffen ausgesetzt.
Wurden die Verdingkinder, die Opfer der fürsorglichen Zwangsmassnahmen, entschädigt?
Es gab zwei offizielle Entschuldigungen vom Schweizer Bundesrat (2010 & 2013). Außerdem stellte die Schweiz 300 Millionen Franken für die Opfer der damaligen fürsorglichen Zwangsmassnahmen bereit. Viele erhielten einen Solidaritätsbeitrag über 2.000 Franken.